Viele sagen „Straße“ und meinen „Fahrbahn“. Teile der Straße sind aber auch Geh- und Radwege, befestigte und unbefestigte Seitenstreifen mit oder ohne Grün, Haltestellen und Entwässerungsrinnen. Die Straße ist nicht nur Verkehrsweg, sondern hat viele Funktionen: Sie nimmt Schilder und Masten, Grün und Möbel, Technik unter und über der Oberfläche vom Abwasserrohr bis zur Ladesäule, öffentliche und kommerzielle Straßenmöbel, Plakatwände und -säulen, stehende Menschen und stehende Fahrzeuge auf.
Der Platz ist meist sehr ungleich verteilt: Von einer 15 Meter breiten Stadtstraße sind oft 11 Meter Fahrzeugen und Stehzeugen vorbehalten. Für alle und alles andere sollen sich die Reststreifen an den Rändern reichen, aber auch sie sind teils zugeparkt und befahren. Fußverkehr wird oft schwer beeinträchtigt. Er ist zwar rechtlich in den Straßengesetzen der Länder als Gemeingebrauch privilegiert, wird aber faktisch oft von Fahrzeugen sowie von raumgreifenden, rechtswidrig dominierenden Sondernutzungen eingeengt und gehemmt.
Ursache ist eine längst veraltete Wertordnung und daraus folgende Planungstechnik: Die Straße wird von der Mitte zum Rand geplant. Erst kommt die Fahrbahn, dann die Parkstreifen, dann der umfangreiche, aber aus dieser Perspektive unwichtige Rest. So sehen sehr viele Straßen in Städten und Dörfern aus – vor allem die für den Autoverkehr als besonders wichtig eingestuften.
Der Rand steht im Zentrum
In der Fachwelt ist das aber längst nicht mehr zeitgemäß. Schon 2006 führte Deutschlands wichtigstes Gremium für Straßen-Standards, die FGSV, in ihre Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06) das Konzept der „städtebaulichen Bemessung“ ein. „Sie verfolgt das Ziel einer ‚Straßenraumgestaltung vom Rand aus‘, heißt es in den RASt 06. „Sowohl für den Fußgängerverkehr und gegebenenfalls für den Radverkehr müssen die je nach Bedeutung des Straßenraums erforderlichen Flächen im Seitenraum bereitgestellt werden.“ Fürs Gehen nennen die Empfehlungen für Fußverkehrsanlagen (EFA 02) der FGSV die Maße in der Tabelle (Auszug S.15).
Straße und Bebauung |
Nötige Breite in Metern
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Straßenunabhängig geführte Wege |
3 |
Wohnstraße, offene Bebauung |
2,1 – 2,3 |
Geschlossene Bebauung, max. 3 Geschosse |
2,5 |
Geschlossene Bebauung; 3 bis 5 Geschosse |
3 |
Gemischte Wohn- und Geschäftsnutzung, 3 bis 5 Geschosse |
3,3 |
Gemischte Wohn- und Geschäftsnutzung mit hoch frequentierter Bus- oder Bahnlinie, hohe Dichte |
4 – 5 |
Geschäftsstraße mit Auslagen, hoch frequentierter Bus- oder Bahnlinie |
5 – 6 |
Zwischen Gehweg und angrenzenden Häusern und Grundstücken sehen die RASt 06 einen Raum vor, den nur großzügige Straßen bieten: „Zwischen Gehbereich und äußerem Rand des Gebäudes ist ein Bereich anzuordnen, in dem die Ansprüche der angrenzenden baulichen Nutzungen erfüllt werden können (Verweilflächen, Wirtschaftsflächen, Distanzbereich, Vorgärten).“ Hierfür nennen sie den Raumbedarf in Tabelle 2.
Grund für Mehrbedarf
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Mehrbedarf in Metern |
Verweilflächen vor Schaufenstern |
1 |
Grünstreifen ohne Bäume |
ab 1,0 |
Straßen mit Bäumen |
ab 2,0 – 2,5 |
Ruhebänke ab |
1 |
Haltestellen ab |
1,5 |
Auslagen und Vitrinen |
1,5 |
Stellflächen für Zweiräder |
2 |
Stellflächen für Zweiräder bei Schrägstellung |
1,5 |
Fahrzeugüberhang bei Senkrecht- 0der Schrägparkstreifen |
0,75 |
Neben dem physischen Raumbedarf nennen die RASt 06 auch einen emotionalen: „Damit Fußgänger sich wohlfühlen, müssen die Seitenräume in einem angenehmen Breitenverhältnis zur Fahrbahn stehen; als angenehm wird eine Aufteilung von Seitenräumen zu Fahrbahn von 30 : 40: 30 empfunden.“ (Seite 22).
Nach der Methode der städtebaulichen Bemessung ist die Fahrbahn nach dem ersten Schritt maximal das, was nach Abzug der benötigten Seitenräume übrig bleibt – „die städtebaulich mögliche Breite“. Und wenn das nicht funktioniert, weil in der Straße benötigte oder erwünschte Fahrzeuge nicht mehr durchkommen? Dann ist Schritt 2 fällig: die städtebaulich nötige Breite ist mit der „verkehrlich notwendigen Fahrbahnbreite abzugleichen“. Hier wird es verkehrspolitisch: Die Ansichten über das „Notwendige“ gehen weit auseinander. Trotzdem finden wir die Entwurfsmethode richtig: Wer mehr Fahr- und Parkraum will, muss erklären, warum dafür die Seitenräume unter das als nötig errechnete Maß beschnitten werden sollen.
Multifunktionaler Streifen für alles – nicht nur für Stehzeuge
Seit 2006 sind die Wünsche und Anforderungen an den Straßenraum gestiegen; die Diskussion um seine Neuaufteilung ist lebhaft. Damals propagierte die FGSV die Deckung von Seitenraum-Bedarf zwischen Gehweg und Häusern. Heute ist mehr und mehr der Raum zwischen Gehweg und dem berollten Teil der Fahrbahn im Fokus, auf dem meist Autos parken. Deren Abstellstreifen kann zum Multifunktionsstreifen werden. Hier stehen Bäume, Bänke und Spielgeräte. Es wird Regenwasser zur Versickerung gesammelt und werden Restauranttische aufgestellt – München hat dafür das schöne Wort „Schanigärten“.
Auch die Effizienz des Parkens ist in der Diskussion: Ist es sinnvoll, auf zehn Quadratmeter ein Auto zu stellen – oder vielleicht besser sechs bis zehn Fahrräder, E-Scooter, Mopeds und Motorräder? Knappen Parkraum nur wenigen Verkehrsteilnehmern mit großen Fahrzeugen zu überlassen, ist eher ideologisch als pragmatisch. Wer immer hier parken kann, bekommt in dem Multifunktionsstreifen auch die Technik dafür: Verkehrsschilder, Parkautomaten und Ladesäulen. Gehwege sind keine Tankstellen, sondern dienen dem ungestörten, angenehmen Zufußgehen.