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Schritttempo wird oft verlangt - aber bei der Definition herrscht Chaos. In der Straßenverkehrsordnung steht keine, Gerichte nennen Werte von 4 bis 20 Stundenkilometern. Wir fordern eine klare Regel und schlagen 6 km/h vor.

Schritttempo wird von der Straßenverkehrsordnung in mindestens sieben Fällen verlangt:

  • in Fußgängerzonen und auf Gehwegen, sofern zum Fahren freigegeben
  • in verkehrsberuhigten Bereichen
  • beim Fahren an Haltestellen rechts von Bus oder Bahn
  • Beim Fahren an Haltestellen in beiden Richtungen, wenn bei einem dort stehenden Bus der Warnblinker angeschaltet ist.
  • beim Rückwärtsfahren oder Einparken ohne angelegten Gurt oder mit Hilfe von Kamera und Bildschirm
  • mit einem Fahrzeug für Gehbehinderte auf dem Gehweg
  • seit 2021 für innerorts rechts abbiegende LKW.

Außerdem verlangt die StVO bei Schritttempo oder Stillstand auf Straßen mit mehreren Spuren außerorts die Bildung einer Rettungsgasse.

Ein wichtiges Thema also, aber die Straßenverkehrsordnung regelt es nicht. Das müssen dann Gerichte tun – und das führt zu Chaos. Zunächst die uns bekannten Urteile bis 2017, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

OLG Köln (22.1.1985, Ss 782/84)

4 – 7 km/h

OLG Karlsruhe (14.4.2004, 1 Ss 159/03)

4 – 7 km/h

OLG Düsseldorf (7.3.2017, 1 U 97/16)

4 – 7 km/h auf Privatgelände

OLG Brandenburg (23.05.2005, 1 Ss (Owi) 86B/05)

6 km/h

OLG Hamm (20.09.2010, I-6 U 222/09)

10 km/h

VG München (22.6.2005, M 9 K 04.6193

10 km/h

OLG Naumburg, (21.3.2017, 2 Ws 45/1710)

max. 10 km/h

AG Leipzig (16.02.2005, 215 OWI 500 Js 83213/04)

15 km/h

LG Aachen (Fundstelle zfs 93, 114)

deutlich unter 20 km/h

BayVwGerH (20.6.2011, 11 ZB 10.1353)

10 bis 20 km/h

Verfassugsgericht Brandenburg (17.2.2017 – 97/15)

Geschwindigkeit, die "stets ein rechtzeitiges Stoppen" ermöglicht

Quellen: Blog Lapid und Deutsches Anwalts-Office

Aus diesem Durcheinander zogen in jüngerer Zeit zwei Oberlandesgerichte zwei völlig gegensätzliche Konsequenzen. Das OLG Karlsruhe (8.1.2018, 2 RB 9 Ss 794/17) schloss für einen verkehrsberuhigten Bereich aus den fast gleichen Entscheidungen der oben genannten drei gleichrangigen Gerichte in Köln, Brandenburg und Karlsruhe, „dass die durch Zeichen 325.1 angeordnete Schrittgeschwindigkeit nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung … keine höhere Geschwindigkeit als 7 km/h gestattet“.

Bald darauf kam das Thema vors Oberlandesgericht Hamm. Das hätte sich der inzwischen vierfach gefestigten Rechtsprechung bedienen können, diagnostizierte aber das Gegenteil: „eine derzeit gegebene Uneinheitlichkeit in der obergerichtlichen Rechtsprechung, in welcher der Begriff der Schrittgeschwindigkeit teilweise bzw. überwiegend mit max. 7 km/h definiert, teilweise aber auch mit max. 10 km/h angegeben wird“ (28.11.2019, 1 RBs 220/19. Daraus schloss das Gericht, dass „ein Verstoß gegen das Gebot der Schrittgeschwindigkeit allenfalls erst bei Überschreitung des Wertes von 10 km/h zur Last gelegt werden kann, solange keine verbindliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder eine entsprechende gesetzliche Klarstellung vorliegt“.

 

Das Moped als Maß aller Schrittdinge

Allerdings traute sich das Gericht zu entscheiden, was Schritttempo keinesfalls sei: das Tempo gewöhnlicher Fußgänger, bei flottem Schritt rund 5 km/h. Die Richter machte eine Vorschrift in der Fahrerlaubnisverordnung für Mofas und Mopeds ausfindig, nach der in der Ausbildung „Geradeausfahren mit Schrittgeschwindigkeit“ und in der Prüfung ein „Fahren eines Slaloms mit Schrittgeschwindigkeit“ gefordert sei. Ohne einen Beleg anzuführen schrieben die Richter, dass die „physikalisch notwendige Mindestgeschwindigkeiten zur Fahrstabilität eines Zweirades“ höher als die von Gehenden sei. Kurz gesagt: Das Mindestmaß allen Schritttempos setze kein Mensch auf Beinen, sondern der schwankende, aber noch nicht umfallende Prüfling auf dem Moped.

Der in Hamm verhandelte Fall drehte sich um hoch gefährliches Verhalten: Ein Autofahrer mit 41 km/h in einem verkehrsberuhigten Bereich unterwegs – einem Ort also, an dem es meist keine Trennung zwischen Fahrbahn und Gehweg gibt und überall Menschen zu Fuß sein können, dürfen und oft müssen. Aber der Raser hatte in Hamm Glück: Erst zog ihm das Gericht die üblichen 3 km/h Messtoleranz ab. Dann fand es, ein Schritttempo-Verstoß beginne allenfalls bei 10 km/h, nicht bei 7 km/h. So kam der Fahrer genau unter die Grenze, ab der ein Fahrverbot fällig wäre. Sein lebensgefährdendes Verhalten wurde mit einer hierfür sehr bescheidenen 100-Euro-Geldbuße abgegolten.

Die Richter in Hamm sahen aber durchaus den Wirrwarr und schrieben, dass eine „verbindliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder eine entsprechende gesetzliche Klarstellung … aus Sicht des Senats als sinnvoll zu erachten wäre“.

Aus unserer Sicht selbstverständlich auch. Verkehrsregeln und ihre Auslegung müssen klar und widerspruchsfrei sein, damit sie wirken. Das brauchen alle, die fahren; auch Polizei und Amts-, Landes- und Oberlandesgerichte brauchen es. Sonst weiß niemand sicher, ob für ein bestimmtes Tempo ein kleines Knöllchen, ein Punkt in Flensburg oder ein Fahrverbot droht.

 

Wie das Recht an Autorität verliert

Das Fehlen eines klaren Limits nimmt der Forderung nach Schritttempo jede Akzeptanz. Wer nicht weiß, wie er nach der Regel handeln soll, der handelt gar nicht nach ihr. Wer mit Rechtskenntnis unterwegs ist, wird kaum akzeptieren, dass er nach dem Brandenburger Urteil 4 Stundenkilometer fahren darf und nach einem der bayerischen 20. Das wirkt willkürlich und stellt die Autorität des Rechts in Frage.

Schritttempo soll Sicherheit schaffen, auch dazu muss es eindeutig sein. Je schneller ein Fahrzeug ist, desto höher sind Unfallwahrscheinlichkeit und Verletzungsgefahr. Schon bei 30 geht jeder zehnte Unfall tödlich aus, bei dem ein Mensch zu Fuß gerammt wird. Im Tempobereich darüber steigt das Todesrisiko exponentiell.

Gerade wo Gehende und Fahrende sich mischen, darf nur sehr langsam gefahren werden: Namentlich Alte, Kinder, Menschen mit Behinderungen und Verletzungen können sich nicht auf schnelleren Fahrzeugverkehr einstellen. Oft können sie sich nicht einmal mit den Fahrenden verständigen. Sie sind darauf angewiesen, dass die anderen sich ihren begrenzten Möglichkeiten anpassen. Das funktioniert nur, wenn diese etwa gleich schnell sind.

 

Die Lösung: Echtes Schritttempo

Wir halten 6 km/h für ein vernünftiges Maß. Es entspricht schnellem Gehen, gefährdet aber langsamer Gehende noch fast nicht. Oft kommen dagegen technische Einwände: Tachos würden das nicht anzeigen. Das mag für alte Zeigertachos gelten, für jüngere elektronische nicht. Einwand 2: Mit dem Zweirad fällt man dann um. Unsere Antwort: Wer nicht sicher langsam fahren kann, muss hier eben schieben. Die vom OLG Hamm angeführte Fahrerlaubnisverordnung lässt sich notfalls ändern.

Bizarr ist der Standpunkt des Bundes-Verkehrsministeriums, die diffuse Nicht-Regelung führe zu „besonders angepasstem Verhalten“. Das ist schon in sich unlogisch: An welches Maß sollen sich die Leute anpassen, wenn es gar keins gibt? Es ist auch eine weltfremde Aussage: Wer fährt, findet immer ein höheres Tempo angemessen als die, die hier gehen. Das führt dazu, dass vor allem die Schwächeren zu „angepasstem Verhalten“ gezwungen sind. In der Aussage des Ministeriums lebt der Geist fort, in dem 1938 der Reichs-StVO-Mitautor Hermann Gülde formulierte: „Der Langsame hat auf den Schnelleren Rücksicht zu nehmen.“

 

Mehr Pflicht zum Schritttempo!

Die Pflicht zu Schritttempo sollte in noch mehr Fällen gelten, und zwar

  • wenn jemand auf der eigenen Fahrbahnseite geht - zum Beispiel auf dem Weg zum Auto oder weil es keinen benutzbaren Gehweg gibt.
  • wenn damit zu rechnen ist, dass jemand die Fahrbahn betritt - zum Beispiel ein Schulkind oder ein alter Mensch am Bordstein
  • beim Abbiegen innerorts für alle Fahrenden, wo Menschen zu Fuß oder mit dem Rad Vorrang haben
  • beim Vorbeifahren an haltenden Bussen und Trams in jeder Richtung und, ob mit Warnblinker oder nicht.