Als erste deutsche Stadt hat Leipzig einen Beauftragten für den Fußverkehr: Friedemann Goerl, Jahrgang 1989, Geograph. Wie fördert er den Gang der Dinge in Leipzig?

Interview: Roland Stimpel

Ist Leipzig in puncto Fußverkehr früher aufgewacht als andere?

Friedemann Goerl mit Marzipanschuh der Senioren-Union

Für die Stadt ist Fußverkehr nicht erst jetzt ein Thema. Es gab schon 1997 einen ersten Plan dafür. Auch die Idee eines hauptamtlichen Beauftragten ist etwa zehn Jahre alt. Zunächst an der Finanzierung gescheitert, aber schließlich gab es einen breiten Konsens bei den Fraktionen und verantwortlichen Personen.

Hat Leipzig eine große Geh-Tradition oder besondere Probleme?

Wir sind eine traditionelle Fußverkehrsstadt. Leipzig ist ja stark durch Gründerzeitquartiere geprägt, die oft breite Straßenquerschnitte und breite Gehwege haben. Auch dort wollte das Bürgertum sich repräsentieren und das auch in Form von Bürgersteigen darstellen. Nach dem Krieg gab es hier und da Verschlechterungen, aber man hat die Bürgersteige nicht durchweg angepasst und beschnitten. Die Mittel dazu und vor allem der Druck durch den Autoverkehr waren ja viel geringer als im Westen. Heute liegen wir im guten Mittelfeld vergleichbarer Städte; der Modal-Split-Anteil liegt bei ca. 25 Prozent. Aber der lässt sich natürlich steigern.

Was ist der Schlüssel dazu?

Wichtig ist, dass alle Beteiligten für Angelegenheiten des Fußverkehrs sensibilisiert sind, dass sie ihn auf dem Schirm und auf der Wertskala oben haben. Es gibt ja hier und anderswo ein erfolgreiches Modell, dass es so funktioniert, nämlich die Radverkehrsbeauftragten.  Die Stadt will beide Verkehrsarten fördern und hat sich gesagt: Für ein Gleichgewicht brauchen wir auch für beide Bereiche jemanden, der sie betraut.

Was waren Ihre Voraussetzungen für den Job?

Ich habe Geographie in Leipzig und Halle studiert mit einem Schwerpunkt auf städtische Räume und politische Prozesse und war danach in der Verkehrsplanung der Stadt Chemnitz tätig. Die Weichen wurden aber schon an der Hochschule gestellt. In der studentischen Selbstverwaltung war ich Referent für nachhaltige Mobilität. Da haben wir zum Beispiel ein neues Semestertickets eingeführt. Es ging auch um Radverkehr; Fußverkehr hat aber explizit noch keine große Rolle gespielt. Da war es an der Hochschule wie überall in der Gesellschaft: Alle gehen, aber der Fußverkehr wird zu wenig als eigenes Thema wahrgenommen.

Auch bei den Leipziger Bürgern, in Medien und in der Verwaltung unterhalb der Spitze?

Fußverkehr läuft oft ein bisschen unter dem Radar. Manche können nichts damit anfangen und sagen, was muss man denn da planen, es kommt doch jeder zu Fuß von A nach B. Aber man kann Problembewusstsein wecken. Und auch Bewusstsein für die Qualitäten des Gehens, von Aufenthalt, Verweilen, Kommunikation und Sicherheit im öffentlichen Raum.

Und wenn es dann konkret wird, etwa bei der Verteilung von Raum?

Da hat der Fußverkehr oft keine großen Fürsprecher, aber auch keine expliziten Gegner. Man ist so ein bisschen indifferent. Oft kommen andere nicht proaktiv auf mich zu, sondern ich muss mir Partner suchen. Aber dabei stelle ich fest: Fußverkehr findet überall Freunde. Da habe ich es übrigens leichter als mein Kollege, der den Radverkehr betreut. Er stößt teilweise auf stärkere Barrieren.

Was war oder ist Ihr erstes größeres Projekt hier?

Die Fußverkehrsstrategie soll noch in diesem Jahr fertiggestellt und öffentlich präsentiert werden. Dazu wird auch der Runde Tisch Fußverkehr wieder einberufen, an dem alle Akteure sitzen, die sich berufen fühlen – zum Beispiel Seniorenbeirat, der FUSS e.V., Vertreter von Kinderbelangen, der ADFC und viele andere. Die Fußverkehrsstrategie soll ein Grundgerüst werden. Konkrete räumliche Konzepte wie Routen und Einzelmaßnahmen sollen später daraus abgeleitet werden.

Sie sind nicht der Stadtplanung oder Umweltverwaltung zugeordnet, sondern dem Verkehrs- und Tiefbauamt. Heißt das: Letztlich sollen Sie sich doch weniger um Gesamtkonzepte kümmern und mehr um Einzelmaßnahmen?

Nein. Fußverkehr gehört schlicht in das Amt, das sich mit Fortbewegung, Mobilität und der buchstäblichen physischen Grundlage dafür beschäftigt. Die Idee bei meiner Stelle ist, eine koordinierende strategische Funktion für den Fußverkehr wahrzunehmen. Ich bin in alle Planungen involviert, die den Fußverkehr betreffen. Jede Haltestelle, jeder Bebauungsplan, jede Straßenbaumaßnahme läuft auch über meinen Tisch. Ich schreibe Stellungnahmen dazu, die dann in die Abwägung und Entscheidung einfließen.

Und auch berücksichtigt werden?

Die Reaktion ist oft: O ja, das stimmt und ist ein gutes Argument, darüber haben wir gar nicht nachgedacht und nehmen das jetzt auf. Das erlebe ich bei vielen meiner Anmerkungen.

Ist das viel oder wenig?

Für den Anfang finde ich es gut. Es wäre illusorisch zu denken: Alles, was ich reinschreibe, wird auch umgesetzt. Es ist ja immer ein Spannungsverhältnis zu anderen Belangen. Wenn ich irgendwo eine Sitzbank vorschlage und die Feuerwehr Einspruch erhebt aufgrund einer notwendigen Zufahrt, dann setzt sich eben die Feuerwehr durch. Aber wenn nicht, dann kommt die Bank.

Wieweit ist Fußverkehrsförderung eine Geldfrage?

Alles ist auch eine Geldfrage. Aber momentan sind die meisten Dinge, die für den Fußverkehr umgesetzt werden, Teile von komplexen Maßnahmen, etwa beim Umbau von Straßen oder nach der Erneuerung von Leitungen. Das ist dann bereits finanziert, und es geht nicht so sehr um die Verteilung von Geld zugunsten einzelner Verkehrsarten, sondern um die Verteilung und Gestaltung von Raum.  

Sind Sie auch bei der Bauausführung dabei?

Zum Glück nicht; das könnte ich gar nicht schaffen. Mein Job ist die Weichenstellung im Vorhinein, strategisch wie bei der Planung von Einzelmaßnahmen. Es wäre gar nicht zu leisten und in der Abwicklung ziemlich unsinnig, wenn dann die Baumaßnahme auf der Fahrbahn vom einen betreut wird und auf dem Gehweg von einem anderen.

Werden Sie gefragt, wenn es um anderen Gebrauch von Gehwegen geht – sei es die Freigabe für Radfahrer, seien es gewerbliche Sondernutzungen?

Den Fall „Gehwegfreigabe“ hatte ich noch nicht; ich bin da aber auch nicht formell einbezogen. Und Sondernutzungen bewilligt das Ordnungsamt nach festen Regeln.

Wieviel lässt es zum Gehen?

Punktuell nur 1,30 Meter, wenn es gleich dahinter wieder breiter wird. Meine Aufgabe ist nun nicht, mit Ordnungsamt und Antragsteller jedes mal um Zentimeter zu kämpfen. Sondern mich zum Beispiel im Fußverkehrskonzept dafür einzusetzen, dass grundsätzlich bestimmte Mindestbreiten eingehalten werden.

Arbeiten Sie nur verwaltungsintern und strategisch oder betreuen Sie auch Anliegen einzelner Bürger?

 

Zwei Wochen nachdem ich hier angefangen habe, gab es eine Pressemitteilung der Stadt. Danach kam eine Flut von Bürgeranliegen, und mir wurde bald signalisiert, ich sein im Verkehrs- und Tiefbauamt derjenige mit der meisten Post. Der erste Satz in vielen Briefen hieß nicht: Bei mir ist eine Stolperstelle, sondern: Schön, dass es endlich jemanden für mein Anliegen gibt. Da will man natürlich helfen, muss aber auch Erwartungen dämpfen, dass am nächsten Tag der Gehweg repariert ist. Es macht Arbeit, aber es natürlich wichtig zu wissen, wo es Bürger buchstäblich unterm Schuh drückt. Und zu wissen, wer ihnen letztlich helfen kann. Einem normalen Menschen kann man ja nicht zumuten zu wissen, ob sein Weg vom Amt für Stadtgrün und Gewässer oder von der Straßeninstandsetzung betreut wird.

Also schicken Sie ihn zum Zuständigen, der Abhilfe schafft?

Nein, an den wende ich mich selbst. Und dann geht zum Beispiel jemand von der Straßeninstandsetzung hin und guckt sich das an. Was passiert und ob überhaupt etwas passiert, hängt natürlich vom Ergebnis ab. Das den Bürgern zu vermitteln, braucht manchmal auch gewisses Fingerspitzengefühl. Es bekommt nicht jemand als erster seinen Gehweg repariert, nur weil er am lautesten schreit. Aber die Verwaltung hat Prioritäten und ich bringe mich ein, wo die gesetzt werden. Die Frage ist zum Beispiel, ist eine Querungshilfe vor dem Kindergarten grundsätzlich dringender? Oder wieviel wichtiger ist das Beseitigen kleiner Unebenheiten vor einem Seniorenheim als im Einfamilienhaus-Gebiet?

Können Sie da etwas bewegen?

 

Oft sind Fußverkehrsthemen sehr kleine Dinge ohne große Etats und Vorlaufzeiten. Da kommt die Seniorenbeauftragte auf mich zu und sagt: Vor dem Heim XY ist der Bordstein unüberwindbar hoch. So etwas kann innerhalb eines Tages ins Programm aufgenommen und noch in diesem Jahr umgesetzt werden, und dann kommen die Senioren endlich ordentlich zum Bäcker, das ist ein Qualitätssprung im Alltag. Große Straßen- oder Brückenbauprojekte können dagegen zehn Jahre bis zur Umsetzung dauern.

Was können Sie für besseres Queren von Fahrbahnen tun?

Für Zebrastreifen gibt es ja recht strenge Bedingungen; Mittelinseln gehen eher. Wir sind gut dabei, Gehwege vorzuziehen, Nasen zu schaffen, Fahrbahnquerschnitte zu verringern. Gegen das Zuparken verwenden wir lieber Fahrradbügel als Poller – dann stehen weniger Räder auf den Gehbahnen.

Bekommen Sie auch die Beschwerden über Radfahrer auf Gehwegen?

Ja, das ist ein großes Thema. Es schlägt sich nicht sehr stark in der Unfallstatistik nieder; selbst in der Innenstadt mit vielen sichtbaren Konflikten gab es in einem Jahr nur zwei Unfälle. Aber es beeinträchtigt das Sicherheitsgefühl; wir müssen es ernst nehmen. Für nachhaltige Lösungen kann und will ich nicht gegen den Radverkehr arbeiten, sondern gemeinsame Lösungen suchen, am besten für sichere Infrastruktur auf der Fahrbahn.

Oder auch Tempo 30?

Auch dafür können der Radverkehrsbeauftragte und ich uns gemeinsam einsetzen. Anordnen muss das die Straßenverkehrsbehörde, also letztlich mein Amtsleiter.

Gehen Sie systematisch an Unfallschwerpunkte?

Beim Fußverkehr gibt es die kaum die sind eher räumlich gestreut. Aber wo es gefährlich ist, gehen wir natürlich ran. Eins meiner ersten Vorhaben war eine Schulwegsicherung in Knautkleeberg: Da wird ein Gehweg gebaut, den es noch gar nicht gab, da werden Nasen vorgezogen und Aufstellflächen für die Kinder geschaffen.

Wie verhält sich der Einzelhandel? Will man da nach wie vor nur Parkplätze?

Ich bin auch Vertreter des Verkehrs- und Tiefbauamts in der AG Innenstadt, wo die großen Player des Handels aktiv sind. Die wollen natürlich Parkplätze. Aber letztlich wollen sie vor allem eine hohe Fußgängerfrequenz vor der eigenen Ladentür. Ob eine Straße 1A- oder 1B-Lage ist, hängt für sie nicht an der Zahl der Stellplätze, sondern daran, wie viele Menschen dort laufen.

Und außerhalb der City?

Da sind die Händler nicht so vernetzt, auch nicht in den Stadtteilzentren. Aber sie möchten natürlich, dass ihre Geschäfte gut zu Fuß erreichbar sind. Und sie erleben den Konflikt bei sich selbst, wenn sie andererseits den Gehweg für ihr Geschäft nutzen wollen.

Was kann ein Verein wie FUSS e.V. tun, um das Anliegen lokal zu fördern?

Lobbyismus betreiben, Druck in der Öffentlichkeit ausüben, damit kann man schon einiges erreichen. Der FUSS e.V. kann Dinge fordern, steilere Thesen einbringen und auch mal zuspitzen – anders als die Stadt, die ja immer zwischen Interessen vermitteln muss. Und schön wäre, wen er nicht nur auf der Fachebene bleibt, sich mit Vorschriften und Mindestbreiten beschäftigt, sondern auch Themen wie Mobilitätskultur, Lebensstil und Stadtvisionen pflegt.