Das Europäische Parlament,

A. in der Erwägung, daß den Problemen der städtischen Ballungsgebiete im 4. Aktionsprogramm der EG für den Bereich der Umwelt eine wachsende Bedeutung beigemessen wird; unter Hinweis darauf, daß der Schutz des Fußgängerverkehrs wirksam zum Wohlergehen der Bürger, zur Wiederaufwertung der Ballungsgebiete und zur Erhaltung der geschichtlichen und städtebaulichen Werte sowie der Umwelt beitragen kann,

B. in der Erwägung, daß jeder einmal Fußgänger ist und der Fußgängerverkehr in Stadtgebieten einen erheblichen Anteil am Verkehrsaufkommen hat (zwischen 25 und 45%) und vor allem die schwächsten Verkehrsteilnehmer umfaßt (Kinder, ältere Menschen),

C. in der Erwägung, daß Fußgänger in jeden 3. tödlichen Verkehrsunfall verwickelt sind und daß fast die Hälfte der Todesfälle bei Kindern auf solche Unfälle zurückzuführen ist,

D. in der Erwägung, daß die zahlreichen Verkehrsunfälle zum überwiegenden Teil auf zu schnelles Fahren zurückzuführen sind,

E. in der Erwägung, daß die gesellschaftliche Ideologie ,,Priorität für den Autoverkehr auf allen Gebieten", die Stadtstruktur, den Straßenzustand und die Flut von Privatfahrzeugen die Bewegungsmöglichkeiten der Fußgänger einschränken und die schwächsten Verkehrsteilnehmer, insbesondere Behinderte und Schwerbehinderte, die einen erheblichen Teil der europ. Bevölkerung ausmachen, von der Nutzung der öffentlichen Verkehrswege ausschließen,

F. in der Erwägung, daß der wachsende Anteil von älteren Menschen an der Bevölkerung das Problem des Schutzes der Fußgänger sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht verschärfen wird,

G. in der Erwägung, daß in den Städten, vor allem in den historischen Stadtkernen und in Industriegebieten, die Fußgänger wegen der hohen Luftverschmutzung und Lärmbelastung untragbaren Fortbewegungsbedingungen ausgesetzt sind und daß die Kinder diejenigen Fußgänger sind, die den Autoabgasen, vor allem Blei, am stärksten ausgesetzt und von Gehörschäden und Schädigungen des vegetativen Nervensystems aufgrund ihrer Gestalt und ihrer physischen Anfälligkeit am stärksten bedroht sind,

H. in der Erwägung, daß die Fußgängerzonen gegenüber den Bebauungsflächen und den Autoverkehrsstraßen lediglich als Restflächen betrachtet werden,

I. in der Erwägung, daß mit Ausnahme weniger Länder Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit (Werbekampagnen, gesetzliche Maßnahmen, Erhaltung und Verbesserung der städtischen Infrastruktur) vorwiegend auf die Autofahrer ausgerichtet waren und daß in der Ausbildung und in Programmen zur Fahrschulausbildung kaum ein Verhalten gefördert wird, das den Fußgängern Rechnung trägt,

J. in der Erwägung, daß immer mehr Bevölkerungsgruppen die Umstellung auf eine menschenwürdige und umweltfreundliche Verkehrsentwicklung für dringend erforderlich halten,

1. ist der Auffassung, daß eine Politik zugunsten der Fußgänger den Angelpunkt für eine Politik darstellen muß, die darauf ausgerichtet ist, eine neue und menschlichere ,,Stadtmentalität" zu schaffen, weshalb sie zur grundlegenden Komponente der verkehrspolitischen, stadtplanerischen und baulichen Maßnahmen der Mitgliedsstaaten werden muß;

2. verabschiedet zu diesem Zweck folgende Europäische Charta der Fußgänger:

I. Der Fußgänger hat das Recht, in einer gesunden Umwelt zu leben und die öffentlichen Straßen und Plätze zu angemessenen Bedingungen für die Sicherheit seiner körperlichen und seelischen Gesundheit frei zu benutzen.

II. Der Fußgänger hat das Recht, in Stadt- und Dorfzentren zu leben, die Menschen- und nicht autogerecht gestaltet sind und über Einrichtungen zu verfügen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad leicht erreichbar sind.

III. Kinder, ältere Menschen und Behinderte haben ein Anrecht darauf,daß die Stadt einen Ort der Sozialisierung darstellt und ihre ohnehin schwache Stellung nicht noch weiter untergraben wird.

IV. Behinderte haben ein Recht auf spezifische Maßnahmen, die ihnen jede nur irgendmögliche selbständige Mobilität gewähren, und zwar durch Anpassung der öffentliche Verkehrswege, verkehrstechnische Systeme und öffentliche Verkehrsmittel (Leitmarkierungen, Warnzeichen, akustische Signale, behindertengerechte Busse, Straßenbahnen und Züge).

V. Der Fußgänger hat einerseits Anrecht auf möglichst ausgedehnte städtische Zonen, die ganz auf seine Bedürfnisse abgestellt sind und nicht bloße ,,Fußgängerinseln" darstellen, sondern sich in die allgemeine Struktur der Stadt harmonisch einfügen, und andererseits hat er Anspruch auf kurze, logische und sichere Wege, die miteinander verbunden und ihm allein vorbehalten sind.

VI. Der Fußgänger hat insbesondere Anspruch auf:

a) die Einhaltung der von wissenschaftlicher Seite als tolerierbar angesehenen Normen für Abgase und Lärmentwicklung bei Kraftfahrzeugen;

b) den allg. Einsatz umweltfreundlicher und leiser Fahrzeuge im öffentlichen Verkehr;

c) die Schaffung von grünen Lungen auch durch innerstädtische Aufforstung;

d) Geschwindigkeitsbegrenzungen und eine strukturelle Neueinteilung der Straßen und Kreuzungen, um Fußgänger- und Fahrradverkehr wirksam zu schützen;

e) ein Verbot der Werbung, die zu einer falschen und gefährlichen Nutzung von Kraftfahrzeugen auffordert;

f) wirksame Signalanlagen, die auch für Blinde und Gehörlose wahrnehmbar sind;

g) besondere Maßnahmen, die den Aufenthalt auf Straßen sowie deren Zugang und Benutzbarkeit sicherstellen;

h) Anpassung der Form und Ausstattung der Kraftfahrzeuge mit dem Ziel, die gefährlichsten Teile zu entschärfen und die Signalanlagen wirksamer zu gestalten;

i) Einführung eines Systems der im Verhältnis zum Risiko stehenden Haftpflicht in dem Sinne, daß derjenige, der das Risiko schafft, die finanziellen Folgen tragen muß (wie z.B. in Frankreich seit 1985);

j) Einführung einer Fahrschulausbildung, die auf ein Fahrverhalten ausgerichtet ist, daß Fußgängern / langsamen Verkehrsteilnehmern Rechnung trägt.

VII. Der Fußgänger hat ein Recht auf freie und uneingeschränkte Mobilität, die sich mit Hilfe der integrierten Nutzung von Verkehrsmitteln erreichen läßt. Er hat insbesondere Anspruch auf:

a) ein umweltfreundliches, engmaschiges öffentliches Nahverkehrssystem, das den Bedürfnissen aller Bürger, auch der Behinderten, entgegenkommen muß;

b) die Einrichtung einer Infrastruktur für Fahrräder im gesamten Stadtgebiet;

c) die Einrichtung von Parkflächen, die so angelegt sind, daß sie die Mobilität des Fußgängers und den Genuß architektonischer Werte nicht beeinträchtigen.

VIII. Jeder Staat hat die Pflicht, durch bestmögliche Mittel detaillierte Informationen über die Rechte der Fußgänger und über humane und umweltfreundliche Verkehrsalternativen zu verbreiten; dies gilt auch für die Schul- und Vorschulerziehung."

3. fordert die EG-Kommission auf, einen Europatag für die Rechte des Fußgängers durchzuführen, den Inhalt dieser Charta zu verbreiten und einen Vorschlag für eine entsprechende Richtlinie vorzulegen;

4. fordert die Mitgliedsstaaten auf, alle erforderlichen Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele der Charta zu treffen und die tatsächliche Anwendung der geltenden Vorschriften zum Schutz der Fußgänger, insbesondere der Gemeinschaftsrichtlinien betreffend die Schadstoffemission von Kraftfahrzeugen und das Verbot von bleihaltigem Benzin genau zu kontrollieren und Verletzungen dieser Vorschriften streng zu ahnden;

5. hält die Einsetzung einer Arbeitsgruppe bei der EG-Kommission für zweckmäßig, die sich mit der Kartierung der gefährlichsten und in ihrer Funktion am stärksten beeinträchtigten Stadtgebiete befaßt und geeignete Lösungen für jeden Einzelfall erarbeitet;

6. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der EG-Kommission, den Regierungen der Mitgliedstaaten und den betroffenen Organisationen zu übermitteln.

beschlossen zu Straßburg, den 12.Okt.1988

Quellennachweis

  1. Dok. A2-154/88