Die 100-Prozent-Randgruppe strebt in die Mitte

„Fußgängerinnen und Fußgänger sind die 100-Prozent-Randgruppe im Verkehr“, sagt Arndt Schwab, Bundesvorsitzender des Fachverbands Fußverkehr Deutschland FUSS e.V. „Fast alle Menschen gehen; im Schnitt legt jeder in Deutschland pro Jahr eine Strecke wie von Dresden nach Frankfurt am Main zurück. Und in großen Städten sind die Menschen öfter zu Fuß unterwegs als hinterm Steuer, in Bus und Bahn oder auf dem Rad.“  Doch in Politik und Planung sei das oft noch nicht angekommen: „Alle gucken auf Fahrzeuge – und vernachlässigen die natürlichste Fortbewegung.“

Das will FUSS e.V. ändern. In seiner neuen Kampagne „Rettet den Gehweg“ setzt sich der Verband gegen Falschparker und Radfahrer, das Wuchern der Kneipentische und der Werbeschilder auf  Bürgersteigen ein. „Da bleibt oft nur ein handtuchschmaler Streifen“, klagt Pressesprecher Roland Stimpel. „Insgesamt muss ein Gehweg mindestens 2,50 Meter breit sein, damit Menschen mit Einkaufstaschen, Kinderwagen oder in Rollstühlen gut aneinander vorbeikommen.“ Dieses Maß hat die Forschungsgesellschaft für das Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) schon vor vielen Jahren für Bürgersteige an Tempo-50-Straßen ermittelt.

Für FUSS e.V. ist der Gehweg innerorts „als Verkehrsinfrastruktur mindestens so wichtig wie Bus und Bahn“. Darum lohne es zu überlegen, ob nicht die Strafen für Gehweg-Schwarznutzung deutlich höher sein müssen als heute. „Schwarzfahren kostet heute 60 Euro; das verbotenen Parken und Radfahren auf dem Gehweg nur einen Bruchteil“, sagt Stimpel. „Da wären 60 Euro jedenfalls angemessener als beim fehlenden Fahrschein. Und das wäre es immer noch viel billiger als zum Beispiel in Frankreich, wo Fußgänger-Behinderung durch Falschparker und Gehwegradler rigoros mit 135 Euro bestraft werden. Darum passiert das dort viel seltener als bei uns.“

Auf Fahrbahnen fordert FUSS e.V. sichere und bequeme Übergänge in hoher Anzahl sowie  in Orten Tempo 30 als Regel, d.h.  Tempo 50 nur als Ausnahme. „Fährt ein Auto einen Fußgänger mit 50 an, dann ist die Todeswahrscheinlichkeit mehr als viermal so hoch wie bei 30“, erklärt Arndt Schwab. „Und Tempo 30 macht auch den Radverkehr sicherer und attraktiver.  Wir sind uns einig mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC), dass Fußgänger und Radfahrer innerorts auf getrennten Wegen sicher und komfortabel unterwegs sein sollen.“

FUSS e.V. ist Fachverband und Lobby für den  Fußverkehr und Dach entsprechender lokaler Initiativen.  Der Verein vernetzt und berät Experten, Bürger, Städte, etwa mit dem kürzlich erschienenen, vom Umweltbundesamt finanzierten Handlungsleitfaden „Schritte zur Einführung einer kommunalen Fußverkehrs-Strategie.“ Inzwischen gibt es in sieben Städten Ortsgruppen; das soll stark erweitert werden. Lokal sehen wir das größte Potenzial zu einer breiteren Basis. Mitglieder des Bundesverbands versuchen in den kommenden Jahren in möglichst vielen Städten und Stadtbezirken die Bildung von Ortsgruppen anzuregen. Ein Weg dazu kann der „Runde Tisch Fußverkehr“ sein: Zu ihm werden Vertreter von Eltern und Kindern, Senioren, Behinderten sowie örtliche Umweltgruppen eingeladen,  dazu partnerschaftlich orientierten Radfahrer, nicht zuletzt Stadt und Polizei.


Was in Deutschland geht

Leistung

Durchschnittlicher Fußweg pro Tag und Bürger: 1,3 km. Im Jahr: 425 km

Quelle: Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur

 

Anteil der Verkehrsmittel
an allen Wegen im Stadtverkehr in den beiden größten Städten (in %)

 

Berlin

Hamburg

Fuß

27

27

Bus und Bahn

25

22

Kfz (Auto/Motorrad/Moped)
als Fahrer

23

26

Fahrrad

15

15

Kfz als Passagier

10

10


Quelle: Bundesministerium für Verkehr/infas: Mobilität in Deutschland 2017. Ohne Fußwege zu und von Haltestellen und Parkplätzen, nur Bewohner

 

Wegelängen in deutschen Städten  der kurzen und langen Wege)

bis 1 km

23 %

1 bis 3 km

26 %

3 bis 5 km

16 %

Über 5 km

35 %


Quelle: Socialdata München

Unfälle

Getötete Fußgänger 2017: 483  

Todeswahrscheinlichkeit eines Fußgängers beim Aufprall

bei Autotempo 50

39 %

bei Autotempo 30

8 %


Quelle: Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie Österreich

Gesundheit

Nach einer internationalen Langzeit-Vergleichsstudie mit 300.000 Teilnehmern verlängern 20 Minuten zusätzliches Gehen über einen Zeitraum von gut zwölf Jahren die Lebenserwartung um etwa 8,5 Monate. Bewegung zu Fuß ist damit bestens investierte Zeit: Wer 20 Minuten geht, gewinnt 80 Minuten Lebenserwartung.

Quelle: Ärzte-Zeitung

      

Mobilitätsgesetz: Unverbindlich, glanzlos und sehr langsam

Als erstes deutsches Bundesland gibt sich Berlin ein Mobilitätsgesetz, zu dem der Senat schreibt: „Dem Umweltverbund von Fuß- und Radverkehr sowie ÖPNV kommt dabei eine besondere Rolle zu, weil er sehr effizient bei den benötigten Flächen ist.“ Erster Baustein ist das im Juni verabschiedete Radgesetz; die Bausteine zum Fußverkehr werden derzeit beraten. Wir begrüßen, dass auch die größte Verkehrsteilnehmer-Gruppe endlich im Fokus ist.

FUSS e.V. hat aber noch Kritikpunkte am bisherigen Ergebnis:

  • Der Entwurf vermeidet nachprüfbare qualitativ und quantitative Ziele mit Fristsetzungen, wie es sie beim Radgesetz der Fall ist (z.B. bestimmte Infrastrukturen). Doch was passiert, wenn die Vorgaben nicht eingehalten werden? Wir meinen: Dieser Umstand, dass Ziele schwer zu erreichen sind, sollte nicht dazu dienen, sich gar keine Ziele zu setzen. Lediglich ein bisschen besser zu verwalten als bislang ist keine Lösung.
  • Das Eckpunktepapier enthält keine „Leuchttürme“, keine Projekte, die die Bewohner und Gäste mitreißen können mit der Botschaft „Es läuft in Berlin“. Ein Teilnehmer des Beirats forderte „mehr Glamour“, FUSS würde für Berlin schon „Glimmer“ genügen.
  • Das Fußgesetz versucht einen neuen und richtigen Ansatz, in dem es die Bedingungen für den Fußverkehr und dessen untrennbaren Partner „Aufenthalt im öffentlichen Raum“ verbessern will. Die Senatsverwaltung will jedoch Bänke etc. bislang nur auf Plätzen verbessern. Aber Fußverkehr benötigt ein viel kleineres Maschennetz an Stellen, um zu kommunizieren, zu spielen und den Beinen eine Verschnaufpause zu gönnen. - Autofahrer und ihr „ruhender Verkehr“ werden ja auch nicht auf weit weg liegende Parkplätze verwiesen.
  • Die Verwaltung will sich zu viel Zeit nehmen, bis sie Verbesserungen konkret angeht. Jedes Gesetz benötigt Vorschriften für die ausführende Verwaltung, sonst kann diese nicht arbeiten. Nach den Vorstellungen des Senats sollen diese Vorschriften, genannt „Fußverkehrsplan“, aber erst vier Jahre nach Verabschiedung fertiggestellt sein. FUSS fordert mit den anderen Verbänden eine Umsetzung im Radlertempo: Zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes soll die Verwaltung wissen, wo es langgeht.

Stand 10.10.2018

Mehr Info: Stefan Lieb, Geschäftsführer FUSS e.V., Tel. 030 – 492 74 73 und 0157 – 977 4190

 

Totenkopf statt grünem Pfeil

Der grüne Pfeil zum Rechtsabbiegen an Ampeln ist gefährlich, meist illegal angebracht und nutzlos. Das zeigen Fußgänger-Lobbyisten in einer neuen Studie

„Wo an einer Ampel ein grüner Abbiegepfeil hängt, sollte besser ein giftgrüner Totenkopf aufs Blechschild.“ So summiert Peter Struben seine Erkenntnisse aus 40 Jahren Grünpfeil-Praxis in Deutschland. „Der Grünpfeil ist gefährlich, oft illegal angebracht und untergräbt die Verkehrsmoral“, sagt der Grünpfeil-Experte des Fußgänger-Fachverbands FUSS e.V., der jetzt zusammen mit dem Fuss-Vorsitzenden Arndt Schwab eine neue Studie publiziert hat. „Drei Viertel der Pfeile dürfte nach den Vorschriften zu ihrem Anbringen gar nicht hängen. Und drei Viertel der Autofahrer brechen am Grünpfeil die Sicherheitsregeln. Das macht Grünpfeil-Ampeln zu chronischen und brandgefährlichen Unfallstellen.“

Wie schlampig und sogar rechtswidrig viele Städte vorgehen, zeigt schon 2015 ein Bericht der TU Dresden und der Unfallforschung der Versicherungen (UVD). In keiner der untersuchten 59 Städte waren alle Pfeile gemäß der gültigen RiLSA“-Richtlinie angebracht. 76 Prozent der Städte beachteten nicht alle Kriterien. Fast die Hälfte der Städte ignorierte die Sicherheitsanforderungen für Seh- oder Gehbehinderte, viele missachten bis heute den geforderten Schutz von Schulkindern und Radfahrern.

„So häufig, wie die Städte ihre Grünpfeil-Regeln brechen, tun das vor Ort die Autofahrer“,  stellt Peter Struben fest. „Ich habe schon an Ampeln gestanden, wo die Regeln fast im Sekundentakt gebrochen werden.“ Das gilt vor allem für die Vorschrift, bei grünem Pfeil, aber roter Ampel an der Linie vor dem Fußgänger-Überweg zu stoppen. „Durchfahren ohne Halt kostet theoretisch 70 Euro und einen Punkt in Flensburg“, weiß Peter Struben. „Aber das wird fast nie kontrolliert, und drei Viertel halten sich nicht dran.“ Der Forschungsbericht von 2015 hatte für für Deutschlands Grünpfeil-Hauptstadt Dresden eine Regelbrecher-Quote von 70 Prozent, für Köln sogar von 81 Prozent ermittelt.

Entsprechend gefährlich sind die Grünpfeil-Orte. Die Auswertung von 505 Kreuzungen und Einmündungen in fünf Städten ergibt: An jedem der 169 Grünpfeil-Orte gab es im Schnitt in drei Jahren 20 Unfälle; 1.033 Menschen wurden verletzt. An Ampeln ohne Blechpfeil gab es im Schnitt nur je 14 Unfälle. Struben schätzt: „Allein in Dresden kracht es wegen des Grünpfeils etwa viermal pro Woche.“ Fast immer trifft es Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer aus der Querstraße, die auf ihr Grün vertraut hatten. Die Gefahr potenziert sich, wenn der eine bei Rot rechts abbiegt und dann andere mitzieht, die glauben, auch sie hätten freie Fahrt. Manchmal werden auch die bestraft, die vor der roten Ampel zunächst korrekt anhalten: Grünpfeil-Raser rechnen nicht mit solch regeltreuen Verhalten und fahren von hinten auf.

Doch nicht wenige Autofahrer sind Grünpfeil-Fans, die sich Zeitgewinn und Spritsparen durch weniger Standzeit versprechen. Doch das geht oft an der nächsten Ampel wieder verloren. Die Studie von 2015 stellte „keine Einsparungen hinsichtlich der Reise- und Wartezeiten sowie der Haltzeitanteile bei Nutzung der Grünpfeil-Regelung fest“ und deshalb auch „keine Tendenz, wonach sich mit Nutzung der Grünpfeil-Regelung Vorteile hinsichtlich des Kraftstoffverbrauches ergeben.

Dagegen verlängern sich die Wege von Fußgängern und Radfahrern, wenn Autofahrer wegen des Grünpfeils deren Wege blockieren und sie aufs nächste Grün warten müssen.  Aus all dem folgern Peter Struben und Arndt Schwab: „Es gibt keine sicheren und sinnvollen Grünpfeile. Mindestens bei Fuß- und Radwegen müssen sie allesamt verschwinden.“ Struben kündigte an, die Bundesländer als Genehmigungsbehörden auf den Bruch von Vorschriften für das Anbringen hinzuweisen. „Wenn der Pfeil trotzdem hängen bleibt und etwas passiert, dann haften im Ernstfall die Planer persönlich.“

Ein gefährliches Erbe der DDR

Den Grünpfeil auf Blech führte 1978 die DDR ein, weil sie einfacher zu hängen und zu betreiben waren als elektrische Signale. Nach der Einheit erkoren ihn Freunde haltlosen Autoverkehrs zu einer der wenigen erhaltenswerden DDR-Errungenschaften. Zwar warnte im Dezember 1990 der gerade ins Amt gekommene Bundes-Verkehrsminister Günter Krause aufgrund seiner langjährigen Ost-Erfahrung: „Eine dauerhafte Beibehaltung dieser Regelung … kann aus Gründen der Verkehrssicherheit nicht in Betracht kommen.“ Doch da politisch ein Symbol für die Anerkennung ostdeutscher Leistungen gefragt war, blieb er im Osten zunächst erhalten und kam 1994 in die gesamtdeutsche Straßenverkehrsordnung.

Experten und engagierte Bürger wie der FUSS-Gründer Bernd Herzog-Schlagk, Arndt Schwab und Peter Struben warnten schon damals vor dem Tabubruch, dass erstmals das Fahren bei Rot erlaubt wurde. Zwar gab es Kriterien für das Anbringen des Pfeils, etwa zum verlangten Sichtfeld an der Kreuzung, zur Regelung des Quer- und Radverkehrs, zu Abbiegespuren, Schulwegen und mehr. Doch diese waren und sind entweder untauglich oder wurden und werden nicht beachtet. ‚Es häuften sich Unfälle, bedrohliche Situationen und Behinderungen, weil Autos wegen des Grünpfeils Fußgänger-Überwege und Radwege blockierten. Auch zwei Verschärfungen der Kriterien und Richtlinien 2001 und 2003 halfen nicht.


Berlin, Halle, Solingen: Warten, bis es neunmal kracht

Ein typischer Ort der Grünpfeil-Misere in Berlin liegt am Ostbahnhof. Wo die Straße der Pariser Kommune, der Mühlendamm und der Stralauer Platz zusammenkommen, verstößt die Verkehrsverwaltung gleich gegen drei Grünpfeil-Regeln: Autofahrer haben nicht genug freie Sicht in die Querstraße. Es kann aus mehreren Spuren rechts abgebogen werden. Das führt zu wilden Manövern, wenn zum Beispiel Rechtsabbieger links andere überholen, die korrekt an der roten Ampel warten. Außerdem drohen oft Kollisionen mit Autofahrern, die auf der Querstraße regeltreu bei einem Leucht-Grünpfeil auf ihrem Weg zum Bahnhof wenden und nicht damit rechnen, dass plötzlich jemand aus der Querstraße mit „Rot“ kommt.

„Wer als Fahrer diesen grünen Pfeil nutzt, ist völlig überfordert“, hat Struben beobachtet. „Er muss fast gleichzeitig auf Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer aus sechs verschiedenen Richtungen achten. Zweimal kurz hintereinander überquert er Überwege, auf denen Fußgänger grün haben.“ Und Peter Struben zitiert den Polizeibericht einer Grünpfeil-Fahrt am 13.April 2018 mit schrecklichem Ende: „Ersten Ermittlungen zufolge war die 33-Jährige mit ihrem Ford auf der Straße der Pariser Kommune in Richtung Stralauer Platz unterwegs. Als sie, vermutlich bei Rot, rechts in die Mühlenstraße abbog, erfasste sie den 22-Jährigen, der bei Grün die Mühlenstraße überquert haben soll. Der Fußgänger erlitt bei dem Zusammenstoß lebensgefährliche Verletzungen.“

Sechs Monate danach hängt der grüne Pfeil hier immer noch. Abgehängt wird er oft erst, wenn es zu spät ist: An der Merseburger Straße und am Glauchaer Platz in Halle (Saale) verschwand er erst, nachdem an beiden Kreuzungen Fußgänger bei Grün verletzt worden waren. Die Verkehrsbehörde im rheinischen Solingen rang sich an der Ritterstraße sogar erst nach neun Grünpfeil-Unfällen zum Abbau durch.

Grünpfeil für Radfahrer: Gefährlicher Unsinn – besser kurz schieben!

Einen eigenen Grünpfeil für Radfahrer prüft derzeit die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) in einem Modellversuch in Köln, München und Bamberg. Auch sie sollen bei Rot erst halten, Fußgänger durchlassen, und sollen dann bei freiem Überweg nach rechts abbiegen dürfen. FUSS e.V. hält dieses Projekt für unsinnig und überflüssig. „Wenn heute 75 Prozent der Autofahrer die Stop-Regel am Grünpfeil brechen, würden das künftig fast 100 Prozent der Radfahrer tun. Wer zu Fuß über seine grüne Ampel geht, wird dann noch mehr gefährdet und behindert – vor allem Kinder, alte Leute, Geh- und Sehbehinderte.“

FUSS schlägt zur Beschleunigung des Radverkehrs eine simple Alternative vor: „Wer bei Rot recht rum will, kann einfach absteigen, sein Rad ein paar Meter über den Gehweg schieben und sich dann wieder in den Sattel schwingen. Das ist schon heute legal und stört bei rücksichtsvollem Gehen und Schieben keinen Fußgänger.“

 

Europäische Charta der Fußgänger

beschlossen zu Straßburg, den 12.Okt.1988

Das Europäische Parlament,

  1. in der Erwägung, daß den Problemen der städtischen Ballungsgebiete im 4. Aktionsprogramm der EG für den Bereich der Umwelt eine wachsende Bedeutung beigemessen wird; unter Hinweis darauf, daß der Schutz des Fußgängerverkehrs wirksam zum Wohlergehen der Bürger, zur Wiederaufwertung der Ballungsgebiete und zur Erhaltung der geschichtlichen und städtebaulichen Werte sowie der Umwelt beitragen kann,
  2. in der Erwägung, daß jeder einmal Fußgänger ist und der Fußgängerverkehr in Stadtgebieten einen erheblichen Anteil am Verkehrsaufkommen hat (zwischen 25 und 45%) und vor allem die schwächsten Verkehrsteilnehmer umfaßt (Kinder, ältere Menschen),
  3. in der Erwägung, daß Fußgänger in jeden 3. tödlichen Verkehrsunfall verwickelt sind und daß fast die Hälfte der Todesfälle bei Kindern auf solche Unfälle zurückzuführen ist,
  4. in der Erwägung, daß die zahlreichen Verkehrsunfälle zum überwiegenden Teil auf zu schnelles Fahren zurückzuführen sind,
  5. in der Erwägung, daß die gesellschaftliche Ideologie ,,Priorität für den Autoverkehr auf allen Gebieten", die Stadtstruktur, den Straßenzustand und die Flut von Privatfahrzeugen die Bewegungsmöglichkeiten der Fußgänger einschränken und die schwächsten Verkehrsteilnehmer, insbesondere Behinderte und Schwerbehinderte, die einen erheblichen Teil der europ. Bevölkerung ausmachen, von der Nutzung der öffentlichen Verkehrswege ausschließen,
  6. in der Erwägung, daß der wachsende Anteil von älteren Menschen an der Bevölkerung das Problem des Schutzes der Fußgänger sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht verschärfen wird,
  7. in der Erwägung, daß in den Städten, vor allem in den historischen Stadtkernen und in Industriegebieten, die Fußgänger wegen der hohen Luftverschmutzung und Lärmbelastung untragbaren Fortbewegungsbedingungen ausgesetzt sind und daß die Kinder diejenigen Fußgänger sind, die den Autoabgasen, vor allem Blei, am stärksten ausgesetzt und von Gehörschäden und Schädigungen des vegetativen Nervensystems aufgrund ihrer Gestalt und ihrer physischen Anfälligkeit am stärksten bedroht sind,
  8. in der Erwägung, daß die Fußgängerzonen gegenüber den Bebauungsflächen und den Autoverkehrsstraßen lediglich als Restflächen betrachtet werden,
  9. in der Erwägung, daß mit Ausnahme weniger Länder Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit (Werbekampagnen, gesetzliche Maßnahmen, Erhaltung und Verbesserung der städtischen Infrastruktur) vorwiegend auf die Autofahrer ausgerichtet waren und daß in der Ausbildung und in Programmen zur Fahrschulausbildung kaum ein Verhalten gefördert wird, das den Fußgängern Rechnung trägt,
  10. in der Erwägung, daß immer mehr Bevölkerungsgruppen die Umstellung auf eine menschenwürdige und umweltfreundliche Verkehrsentwicklung für dringend erforderlich halten,
  11. ist der Auffassung, daß eine Politik zugunsten der Fußgänger den Angelpunkt für eine Politik darstellen muß, die darauf ausgerichtet ist, eine neue und menschlichere ,,Stadtmentalität" zu schaffen, weshalb sie zur grundlegenden Komponente der verkehrspolitischen, stadtplanerischen und baulichen Maßnahmen der Mitgliedsstaaten werden muß;
  12. verabschiedet zu diesem Zweck folgende Europäische Charta der Fußgänger:
  13. Der Fußgänger hat das Recht, in einer gesunden Umwelt zu leben und die öffentlichen Straßen und Plätze zu angemessenen Bedingungen für die Sicherheit seiner körperlichen und seelischen Gesundheit frei zu benutzen.
  14. Der Fußgänger hat das Recht, in Stadt- und Dorfzentren zu leben, die Menschen- und nicht autogerecht gestaltet sind und über Einrichtungen zu verfügen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad leicht erreichbar sind.

III. Kinder, ältere Menschen und Behinderte haben ein Anrecht darauf,daß die Stadt einen Ort der Sozialisierung darstellt und ihre ohnehin schwache Stellung nicht noch weiter untergraben wird.

  1. Behinderte haben ein Recht auf spezifische Maßnahmen, die ihnen jede nur irgendmögliche selbständige Mobilität gewähren, und zwar durch Anpassung der öffentliche Verkehrswege, verkehrstechnische Systeme und öffentliche Verkehrsmittel (Leitmarkierungen, Warnzeichen, akustische Signale, behindertengerechte Busse, Straßenbahnen und Züge).
  2. Der Fußgänger hat einerseits Anrecht auf möglichst ausgedehnte städtische Zonen, die ganz auf seine Bedürfnisse abgestellt sind und nicht bloße ,,Fußgängerinseln" darstellen, sondern sich in die allgemeine Struktur der Stadt harmonisch einfügen, und andererseits hat er Anspruch auf kurze, logische und sichere Wege, die miteinander verbunden und ihm allein vorbehalten sind.
  3. Der Fußgänger hat insbesondere Anspruch auf:
  4. a) die Einhaltung der von wissenschaftlicher Seite als tolerierbar angesehenen Normen für Abgase und Lärmentwicklung bei Kraftfahrzeugen;
  5. b) den allg. Einsatz umweltfreundlicher und leiser Fahrzeuge im öffentlichen Verkehr;
  6. c) die Schaffung von grünen Lungen auch durch innerstädtische Aufforstung;
  7. d) Geschwindigkeitsbegrenzungen und eine strukturelle Neueinteilung der Straßen und Kreuzungen, um Fußgänger- und Fahrradverkehr wirksam zu schützen;
  8. e) ein Verbot der Werbung, die zu einer falschen und gefährlichen Nutzung von Kraftfahrzeugen auffordert;
  9. f) wirksame Signalanlagen, die auch für Blinde und Gehörlose wahrnehmbar sind;
  10. g) besondere Maßnahmen, die den Aufenthalt auf Straßen sowie deren Zugang und Benutzbarkeit sicherstellen;
  11. h) Anpassung der Form und Ausstattung der Kraftfahrzeuge mit dem Ziel, die gefährlichsten Teile zu entschärfen und die Signalanlagen wirksamer zu gestalten;
  12. i) Einführung eines Systems der im Verhältnis zum Risiko stehenden Haftpflicht in dem Sinne, daß derjenige, der das Risiko schafft, die finanziellen Folgen tragen muß (wie z.B. in Frankreich seit 1985);
  13. j) Einführung einer Fahrschulausbildung, die auf ein Fahrverhalten ausgerichtet ist, daß Fußgängern / langsamen Verkehrsteilnehmern Rechnung trägt.

VII. Der Fußgänger hat ein Recht auf freie und uneingeschränkte Mobilität, die sich mit Hilfe der integrierten Nutzung von Verkehrsmitteln erreichen läßt. Er hat insbesondere Anspruch auf:

  1. a) ein umweltfreundliches, engmaschiges öffentliches Nahverkehrssystem, das den Bedürfnissen aller Bürger, auch der Behinderten, entgegenkommen muß;
  2. b) die Einrichtung einer Infrastruktur für Fahrräder im gesamten Stadtgebiet;
  3. c) die Einrichtung von Parkflächen, die so angelegt sind, daß sie die Mobilität des Fußgängers und den Genuß architektonischer Werte nicht beeinträchtigen.

VIII. Jeder Staat hat die Pflicht, durch bestmögliche Mittel detaillierte Informationen über die Rechte der Fußgänger und über humane und umweltfreundliche Verkehrsalternativen zu verbreiten; dies gilt auch für die Schul- und Vorschulerziehung."

  1. fordert die EG-Kommission auf, einen Europatag für die Rechte des Fußgängers durchzuführen, den Inhalt dieser Charta zu verbreiten und einen Vorschlag für eine entsprechende Richtlinie vorzulegen;
  2. fordert die Mitgliedsstaaten auf, alle erforderlichen Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele der Charta zu treffen und die tatsächliche Anwendung der geltenden Vorschriften zum Schutz der Fußgänger, insbesondere der Gemeinschaftsrichtlinien betreffend die Schadstoffemission von Kraftfahrzeugen und das Verbot von bleihaltigem Benzin genau zu kontrollieren und Verletzungen dieser Vorschriften streng zu ahnden;
  3. hält die Einsetzung einer Arbeitsgruppe bei der EG-Kommission für zweckmäßig, die sich mit der Kartierung der gefährlichsten und in ihrer Funktion am stärksten beeinträchtigten Stadtgebiete befaßt und geeignete Lösungen für jeden Einzelfall erarbeitet;
  4. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der EG-Kommission, den Regierungen der Mitgliedstaaten und den betroffenen Organisationen zu übermitteln.